Peter Antes, emeritierter Professor für Religionswissenschaft aus Hannover, leitete seinen Vortrag über Religionsfreiheit und Religionsausübungsfreiheit damit ein, dass sein Referat zwei Teile habe, die sich vollständig widersprechen. Theoretisch könne man zwar einfordern, beides zu trennen, praktisch hängen Religion und Religionsausübung oft eng miteinander zusammen. Da helfen auch nicht die juristischen Versuche der Etablierung einer “Kulturadäquanz” zur ausschließlichen Einschränkung der Religionsausübungsfreiheit (Anlass der Etablierung 1955, so sei das Kurzreferat ergänzt, war allerdings ein Anhänger des Bundes für Gotterkenntnis und ehemaliges SS-Mitglied, welches im Gefängnis für einen Kirchenaustritt warb und für diesen Tabak versprach). Dass Theorie und Praxis oft weit voneinander entfernt scheinen, betrifft nicht nur rechtliche Fragen der Umsetzung von Bekenntnis- und Ausübungsfreiheit der Religionen, sondern war auch ein Motiv zur Gründung des Religionswissenschaftlichen Medien- und Informationsdienstes REMID e.V. 1989 durch Marburger Studierende der Religionswissenschaft. Die akademischen Debatten der Religionswissenschaft und die öffentlichen Thematisierungen von Religion schienen, so war der Befund, sehr weit auseinander zu liegen. Lesen Sie im Folgenden den Bericht zur Jubiläumstagung 25 Jahre REMID mit dem Thema Religionsfreiheit.
Wertbezug auf das Toleranzprinzip
Jüngst gaben die Vorsitzenden Maria Mahler und Kris Wagenseil dem humanistischen Magazin “Diesseits” ein Interview zum 25jährigen Jubiläum. Im Interview über REMID fragte Diesseits-Redakteur Arik Platzek auch nach den Motiven zur Gründung des Vereins:
Als REMID 1989 gegründet wurde, war ich neun Jahre alt. Ich gehöre sozusagen bereits zur zweiten Generation. Damals war das Fach Religionswissenschaft noch unbekannter als heute. Man beschäftigte sich hauptsächlich mit Texten in außereuropäischen Sprachen. Bei der Gründung REMIDs ging es um zweierlei: Einerseits sollten Erkenntnisse aus diesem Fach der Öffentlichkeit bekannter gemacht werden, andererseits sollte die religiöse Gegenwart mehr zum Gegenstand des Faches werden. Anlass waren also auch gesellschaftliche diffuse Ängste vor Fremden, z.B. die Religionen von Migranten, und Anderen, also neue Religionen, die als „Sekten“ negative mediale Aufmerksamkeit erhielten.
Von Anfang an legt die Satzung des gemeinnützigen Vereins REMID nahe, dass die Aktivitäten im Zweckhorizont eines normativen Wertes stehen. Der Verweis auf Religionsfreiheit liegt nahe. Es sei unter anderem an eine Tagung von 1995 erinnert, bei welcher es um „Kritik an Religionen“ ging. Volkhard Krech schreibt in dem dazugehörigen Tagungsband:
„Die Zielvorgabe dieser Vermittlung [von bzw. durch REMID] besteht laut Satzung darin, die wissenschaftlich gewonnenen Erkenntnisse ‚gesellschaftlich nutzbar zu ma-chen, d.h. ein friedliches und tolerantes Zusammenleben der Menschen und der verschiedenen Religionen zu fördern und gegenseitig respektieren zu können‘. Der in dieser Zielvorgabe zum Ausdruck kommende Wertbezug auf das Toleranzprinzip geht über rein wissenschaftliche Interessen hinaus, ist wissenschaftlich nicht begründbar. Der satzungsgemäße Auftrag füllt den in meinem Schema offen gelassene Wertbezug religionspolitischer Praxis mit dem Toleranz- und Dialogprinzip und setzt sich damit für die Förderung der verfassungsrechtlich gewährleisteten Religionsfreiheit ein.“
Nun könnte man die Hypothese aufstellen, dass alle oder zumindest viele der REMID-Aktivitäten der letzten 25 Jahre mit Religionsfreiheit (irgendwie) zusammenhingen. Aber man kann auch diejenige Hypothese aufstellen, dass Religionsfreiheit als solche noch nie thematisiert wurde. Auch die Veranstaltung “Religionen und Recht” 2001 muss man nicht so deuten, dass sie sich im Wesentlichen auf Religionsfreiheit konzentrierte. Religionsfreiheit war damals ein Thema, aber eines unter vielen. Beschlossen wurde das Thema für die aktuelle Jubiläumstagung auf der vergangenen Mitgliederversammlung in Göttingen 2013.
Sonderausstellung “Religionsfreiheit”
Unsere Tagung war mit ungefähr 50 Gästen gut besucht. Ex-Praktikantin Jennifer Krause hatte das Büffet organisiert. Ich selbst hatte mich an musealer Praxis erprobt und eine kleine Sonderausstellung in einer Vitrine zum Thema entworfen, welche einerseits die internationale Dimension des Themas einfangen sollte (schließlich konzentrierten sich die Tagungsvorträge auf Deutschland und Frankreich), andererseits aber auch versucht, gerade nicht essenzialistisch eine Vorstellung von Religionsfreiheit vorzugeben (vgl. auch unsere Artikel zu Religionsfreiheit), sondern Fragen aufzuwerfen. Daher gab es auch eine Tafel, an welcher frei zum Thema assoziiert werden durfte. Ein besonderer Dank gilt sowohl Heike Luu, welche uns von Seiten der Religionskundlichen Sammlung Marburg unterstützte, als auch der Marburger Bahá’í-Gemeinde, die uns einen Anhänger lieh, den ein Mädchen auf ihrer Flucht aus dem Iran mitbrachte.
Ein Ring zum hundertjährigen Bestehen der Ahmadiyya Muslim Jamaat wurde käuflich erworben und wird nach Ablauf der Ausstellung als Geschenk von REMID an die Religionskundliche Sammlung gehen. Eine Lehmkugel-Replik als Erinnerung an “heilige Erde” aus Pilgerstätten der Yezid*innen im Irak, welche diesen Sommer zerstört worden sind, verweist auf eine dritte besonders von Verfolgung betroffene religiöse Minderheit.
Einen Aktualitätsbezug hat auch ein Smartphone mit einem Auszug aus einem Twitter-Stream, welches mehrere Varianten des arabischen Nún-Zeichen zeigt, das im Sommer im Irak an Häusern und Geschäften von Christen angebracht worden war und schließlich in den sozialen Netzwerken des Internets zum Solidaritätszeichen mit den im Irak verfolgten Christen wurde.
Andere Gegenstände verweisen auf Konzepte religiöser Toleranz in anderen Religionen wie dem Buddhismus oder blicken auf gesellschaftliche Diskurse um Einräumung oder Verwehren von Religionsfreiheit, etwa mittels eines E‑Meters der umstrittenen Scientology-Kirche. Schließlich ist ein Internet-Mem ausgestellt, das seit 2012 unter dem Namen “What people think I do” sechs Bildervarianten zu einem Thema liefert und damit unterschiedliche Perspektiven und oft auch Vorurteile aufzeigt. Als Beispiel wurde die Gothic-Subkultur gewählt.
Der E‑Meter-Koffer führte auch zu einer kritischen Zuschrift. Das E‑Meter in der Vitrine steht nicht dafür, Religionsfreiheit für Scientology einzufordern, sondern verweist auf die entsprechende Diskussion um Scientology und Religionsfreiheit. Zugleich ist seit den 1990ern für REMID ein Thema, Scientology als religionswissenschaftliches Thema zu begreifen. Es ist auch für die Diskussion bzw. Idee der Tagung wichtig, Fragen wie die nach dem Vorrang bestimmter Menschenrechte, z.B. Kinderschutz, anzusprechen. Zugleich ist es aber auch wichtig, die Diskussion um die erhobenen Vorwürfe gegenüber dieser Organisation zu betrachten. Auch bei einer Pausenunterhaltung mit Michael Schmiedel von Migrapolis und Michael Utsch von der Evangelischen Zentrale für Weltanschauungsfragen, seit letztem Jahr auch Professor an der privaten Tabor-Hochschule “pietistisch-evangelikaler Prägung” (Wikipedia), konnte sich darauf verständigt werden, dass bei umstrittenen Gruppierungen die Beweislage entscheiden muss. Liegen keine Beweise vor, dass z.B. Menschenrechte verletzt werden, und es sind bislang nur unbewiesene Annahmen im Raum, kann es sich auch um Diskriminierung handeln. Liegen Beweise vor, erfolgt ehehin ein staatlich-polizeilicher Zugriff (man vgl. dazu auch den noch ungeprüften Beitrag von FOREF zur Kontroverse um die Zwölf Stämme vom 19. November, zu FOREF.
Vorträge und Diskussion
Bereits zuvor sprachen Prof. Edith Franke im Namen des Fachgebiets und als wissenschaftliche Beirätin von REMID sowie Goharik Gareyan-Petrosyan für den Ausländerbeirat der Stadt Marburg. Letztere betonte ihren Lebensweg, ihre Kindheit zwischen Zugehörigkeit zur armenischen Orthodoxie und sowjetischem Atheismus, ihre inzwischen mehr als zwanzig Jahre politisches Engagement für den Marburger Ausländerbeirat und wie es zur Kooperation mit REMID gekommen war, nachdem religionsbezogene Anfragen Thema im Beirat waren.
Die beiden Vorträge von Sarah Jahn (Bochum) und Christiane Königstedt (Leipzig) beschäftigten sich mit konkreten Fallbeispielen. Bei Jahn ging es um die öffentliche Verwaltung von “Religion” am Beispiel von religiösen Organisationen in Justizvollzugsanstalten und der Etablierung islamischer Religionslehre als Studienfach an Universitäten, bei Königstedt um die Sekten- und Beschneidungsdebatten im Nachbarland Frankreich. Die Abstracts (PDF) wurden bereits im Vorfeld der Tagung zum Download bereitgestellt.
Diskutiert wurde später über die von Sarah Jahn getroffene Unterscheidung von “Interessengemeinschaften”, die etwa im Fremdverständnis eines Anstaltsleiters eher als Dienstleister eines Kriminalpräventionsprogrammes wahrgenommen würden (ev. und kath. Gefängnisseelsorge, christliche Wohlfahrtsverbände, christliche Straffälligen- und Gefährdetenhilfen) und “Religionsgemeinschaften”, welche auch durch die Anstaltsleitung als solche wahrgenommen werden (Jehovas Zeugen, regionale evangelikale Gruppen, regionale muslimische Gruppen). Bei der Teilhabe in staatlichen öffentlichen Einrichtungen wie dem Justizvollzug, der Schule und der Universität galt ein Augenmerk der Veränderung religiöser Vergemeinschaftung durch Anpassung an eine Fremdverwaltung. So gibt es in Hinsicht auf den Islam seit den 1960er Jahren Moscheevereine, seit den 1970er Jahren Dachverbände, seit den 1990er Jahren “Spitzenverbände”, seit 2006 die Deutsche Islamkonferenz (DIK) und seit 2010 “Islamische Theologien” an staatlichen Universitäten. Illustrativ war dabei der Hinweis auf die Kanonisierung für ein Lehramtsstudium Islamische Religionslehre — und die Debatte um die Reformtheologie des Münsteraners Prof. Dr. Mouhanad Khorchide.
Sowohl diese Beobachtungen der Anpassung an Verwaltung aus Jahns Vortrag als auch die in Königstedts Vortrag vorgestellte Debatte um Knabenbeschneidung in Frankreich in Anschluss an die deutsche Debatte führten zu einer ersten Konzentration der Diskussion auf Fragen des (staatlichen, öffentlichen) Eingriffs oder Nicht-Eingriffs in die eigentlich juristisch garantierte Selbstverwaltung der Religionsgemeinschaften. Zwar kann der oder die Religionswissenschaftler_in nicht die medizinische und psychologische Expertise zu der Frage liefern, z.B. ob Knabenbeschneidung als Körperverletzung zu werten ist (in Frankreich besteht noch eine gesetzliche “Grauzone”), aber seine (oder ihre) Expertise ist unverzichtbar für die historische, soziologische, ethnologische — eben eine religionswissenschaftliche — Dimension solcher Fragen um Religionen und Religionsfreiheit, nicht nur in Bezugnahme auf die Folgen von entsprechend religionsbezogener Gesetzgebung.
Der Vortrag von Christiane Königstedt begann für Frankreich und in Bezug auf die dortigen “Sekten”-Debatten mit der Beschreibung der Prinzien der “liberté de conscience”, die “Freiheit, seine Überzeugung und seinen Glauben frei wählen zu dürfen”, und der “liberté de penser”, der “individuellen Freiheit des Denkens […], welche nicht durch Unterwerfung unter Dogmen (auch nicht katholische) oder geistige Manipulation beeinträchtigt werden dürfe”. Beide gehörten zum französischen Verständnis von “Laizität”, werden jedoch von unterschiedlichen Situationen und von unterschiedlichen politischen Standpunkten aus unterschiedlich stark betont. Gegen “les sectes” wird von Säkularisten vor allem die Freiheit von religöser Unterdrückung betont, insofern den so bezeichneten neuen religiösen Bewegungen unterstellt wurde, sie betrieben “mentale Manipulation”. Gegen diese wurde 2001 das sogenannte About-Picard-Gesetz verabschiedet, welches diesen – wenig präzise definierten – Straftatbestand nur implizit enthält. Im Kern geht es mehr oder weniger um angenommene sogenannte “Psycho”-Techniken. Bei der Jungenbeschneidungsdebatte wiederum war es nicht die Gedankenfreiheit, sondern der Kinderschutz, der als Grundrecht dem der Religionsfreiheit gegenübergestellt wurde.
Die Diskussion zeigte auch, dass viele Fragen offen bleiben müssen: Etwa der gewagte Vorstoß, ob man das Konzept “Religionsfreiheit” nicht doch besser aufgeben sollte zugunsten z.B. eines Konzeptes öffentlicher Anerkennung. Oder ob Religionsfreiheit um so wichtiger werden wird angesichts von religiösem Pluralismus und weltanschaulich-nichtreligiöser Vergemeinschaftung. Natürlich ob nicht doch besser von Religionswissenschaftler_innen durchgeführte Religionskunde statt Bekenntnisunterricht an staatlichen Schulen eine sinnvolle Angelegenheit sei. Oder auch wie REMID aktuelle Debatten begleiten und auf “gelebte Religionsfreiheit” einschränkende Tendenzen wie z.B. gestiegene Islamfeindlichkeit hinweisen kann und Fehler z.B. in der Darstellung von Religionen korrigiert (auch in der eigenen Berichterstattung, so ist die Stelle zum Pop-Islam im zuletzt verlinkten Gespräch mit dem evangelischen Pressedienst nicht ganz korrekt; Salafisten bedienen sich beim sogenannten Pop-Islam, es handelt sich aber um zwei verschiedene Phänomene).
Kris Wagenseil (2014), überarbeitet von Sebastian Mihatsch (2024)